CENTOVALLI
1
Eine verputzte Mauer
steht noch.
Der Birnbaum
schreibt Schatten darauf:
Blattzeichen, Astwörter,
Windsätze.
Ich will lesen lernen.
2
Jesus stirbt
mit Draht ans Kreuz geflickt.
Kirschen schrumpfen am Baum.
Mittags meldet ein Radio
120 Gefallene, etwa zweitausend Erdbebenopfer
und einen Staatsbesuch
in ein Gässchen.
Über der Kuhtränke
tanzen Mücken.
3
Im ausgetrockneten Flussbett
geschliffene Granitblöcke:
Sonnenbehälter noch lange
in den Schatten hinein,
in Gewittern
vom sandigen Wasser
nachgeschmirgelt;
Steine, über die
kein Gras wächst.
4
Fünf mattblaue Pflaumen
hat mir der Siebenschläfer
übriggelassen.
Zwei hängen vor dürrem Gras,
zwei vor Birkenlaub,
eine hängt vor dem Himmel.
Vier esse ich,
eine schaue ich an.
Zuerst hängt sie
vor dem Himmel,
dann daran,
dann darin:
Pflaumengestirn,
pflaumenblau im Himmelblau.
Ich werde dem Siebenschläfer
eine mattblaue Pflaume übriglassen.
*
OKANAGAN VALLEY
1
Wie in der Kindheit
der alte Tessiner Bauer
gewarnt hat
vor den Libellen,
warnen die Indianer hier
vor den Kolibris:
Pass auf,
dass sie dir nicht
die Augen ausstechen!
Zwischen den stumpf geschliffenen Hügeln
scheint plötzlich alles
aufs Stechen hin angelegt:
die Kaktusnester im Speergras,
die Kiefernnadeln, die Stechpalmenblätter,
die Dornen der Wildrosen, der Baumstachler,
die Hohlzähne der Klapperschlange,
das Geweih des Hirschs,
die Adlerblicke, die Sonne,
die mittags die Farben aus den Storen glüht
und dir durch die Schirmmütze
ins Hirn sticht.
Am Abend werden
aus der Chlorophyllfrische
des besprengten Gartens
die Mücken aufsteigen
(von denen die Indianer wissen,
dass sie aus den Aschenflocken
verbrannter Kannibalen
entstanden sind).
Und in der Nacht,
wenn du verstochen
auf deiner Matratze liegst,
sticht dir vielleicht einmal mehr
der Gedanke an deine Sterblichkeit
ins Herz.
2
Aus den engen Schatten,
die metallisch hart
von den Kiefern fallen,
spröd werden
auf den ausgeglühten Nadeln,
in den heissen Zapfen
verknistern,
verrascheln
in den dürren Stauden
der speerblättrigen Balsamwurzel,
flüchte ich mich benommen
in den weiten Seidenschatten
deiner Blätterkaskade,
Trauerweide,
den du freigebig spendest,
der belebend kühl
aus deinen Laubschleiern rieselt,
mein Erquickungszelt,
mein Lab-Sälchen,
und beim leisesten Windhauch
lustig auf mich niederprasselt,
Trauerweide, fröhlicher Baum!
3
Auf der Stossstange
des angerosteten Fords
in der Kiefernbretterwand
über dem Kopfende der Matratze
der Kleber mit dem Satz:
Eine einzige Atombombe
kann dir den ganzen Tag
verderben.
Am Fussende der Matratze,
im handgezimmerten Büchergestell,
ein Satz von Günter Bruno Fuchs:
Nicht genug, dass die Bäume
in den Himmel wachsen! –
Jetzt lachen sogar die Eichhörnchen
und werfen Haselnüsse ins All.
Zwischen
diesen beiden Sätzen
liegen wir uns
in den Armen.
4
Wenn du im Städtchen
unter dem Ventilatorpropeller
hinter verstaubten Kunststofflamellen
einen „Kaffee bodenlos“ trinkst,
aus einer milchweissen Tasse,
die dir beliebig oft
nachgefüllt wird,
kannst du dein schwarzes Wunder
erleben
– hockst plötzlich
dir selbst gegenüber,
musterst dich neugierig,
fragst dich:
Where are you from?
*