Ich wurde in der Schweiz im Sternzeichen des Löwen, in einem chinesischen Jahr des Affen und unter dem Banner des Bären geboren. Wenn ich der von meinem Vater gezeichneten Geburtsanzeige Glauben schenken darf, stellte mich der Storch am Samstag, dem 18. August 1944, im vierten Stock des Hauses Greyerzstrasse 42 in Bern als nasses Windelbündel zum Schirm im Ständer neben der Wohnungstür. Am rechten Daumen lutschend betrachte ich amüsiert ein Segelschiffchen, das auf der Lache treibt, die sich vom Schirmständer her über den Boden ausbreitet. Die Karte, mit der meine Eltern zwei Jahre später die Geburt meines Bruders anzeigten, lässt darauf schliessen, dass mich der Storch bei den Indianern aus einem Teich gefischt hatte: Mit Federschmuck und Tomahawk krieche ich unter dem in ein Tipi verwandelten Stubenwagen von Wernerli durch.
Falls diese Annahme stimmt, handelte es sich wohl um einen Teich im Okanagan Valley, in jenem Tal im Südwesten von Kanada, in das meine Frau und ich zweiundfünfzig Jahre später auswanderten.
Meine Mutter erzählte meine Ankunft in dieser Welt allerdings anders: Als ich mich mit zwei Wochen Verspätung endlich entschlossen hatte, das Licht dieser Welt zu erblicken, war es der heisseste Tag seit Menschengedenken. Meine Geburt fand in der Klinik Viktoria statt und war mühsam, schmerzhaft und endlos. Meine Nabelschnur war zu kurz, der Arzt musste sie mit starkem Druck auf Mutters Bauch absprengen, und ich sah zuerst erschreckend blau aus, bevor ich gelb wurde.
Meine Mutter hatte ihren Taufnamen Melanie in Melie umgewandelt. Sie war bei meiner Geburt dreiunddreissig, mein Vater dreissig. Weshalb ich auf den Namen Kurt getauft wurde, weiss ich nicht. Der Frauenarzt meiner Mutter hiess mit Vornamen Kurt. Ob die Namenswahl ein Dankeszeichen war? Als mich mein Vater auf dem Zivilstandsamt anmeldete, wurde er nach einem zweiten Vornamen für mich gefragt. Er war darauf nicht vorbereitet und nannte seinen Vornamen Werner. Zwei Jahre später wurde mein Bruder auf den Namen Werner getauft. Als zweiten Vornamen erhielt er denjenigen meines Vaters: Karl. Dass beide Eltern, mein Vater in überdurchschnittlichem Mass, fantasievoll waren, wirkte sich auf die Namenssuche für ihre Söhne nicht aus.
In Bern wohnten wir in einem 1924 gebauten Reihenhaus mit fünf Wohnungen, Vorgärtchen und Hinterhof. Es gehörte meiner Grossmutter Marie.
Im Tessin wohnten wir in den Ferien zuerst im Haus meiner Grosseltern Marie und Jakob im abgelegenen Weiler Remagliasco in den Centovalli. Meine Grossmutter hatte es 1946 auf ein Inserat in der Eisenbahner-Zeitung hin erworben. Auf dem Türschildchen stand von nun an: Casa Maria. Zwei Jahre später kauften meine Eltern das daran angebaute Haus. Das Tessin wurde mir von meiner frühsten Kindheit an zur zweiten Heimat.
Mein Bruder und ich wuchsen also in zwei Welten auf: in einer städtischen, protestantisch geprägten, in der ein deutscher Dialekt gesprochen wurde, und einer ländlich katholischen mit einem italienischen Dialekt.
Die städtische war die Berner Alltagswelt, die ländliche die Tessiner Welt der Ferien, in der wir mit der Mutter und den Grosseltern väterlicherseits einen knappen Viertel des Jahres verbrachten. Mein Vater hatte als technischer Zeichner nur drei Wochen Ferien, die er auf den Frühling (eine Woche über Ostern) und den Sommer in der Tessiner Welt verteilte. Sobald ich und zwei Jahre später auch mein Bruder zur Schule gingen, sagte die Mutter bei Ferienende jeweils: Jetzt fängt dann wieder das Leben B an. Unser Leben B fand also in Bern und unser Leben A im Tessin statt. Im Leben A vergass ich das Leben B. Im Leben B blieb das Leben A immer präsent.
Im Berner Leben B besuchte ich die Primarschule, Progymnasium und Gymnasium. Anschliessend bildete ich mich an der Universität Bern zum Sekundarlehrer aus. Schon Jahre vor unserer Auswanderung nach Kanada verschob sich der Schwerpunkt meiner beruflichen Arbeit vom Unterrichten aufs Schreiben und Malen und die Objekt- und Installationskunst.
Schriftsteller wollte ich schon als Primarschüler werden. Meine Mutter hatte volles Verständnis für diesen Wunsch. Sie war stolz auf ihr gepflegtes Stadtberndeutsch und las uns aus den berndeutschen Geschichten und Romanen von Rudolf von Tavel vor, die alle im Francke Verlag erschienen waren, wo sie, damals noch als Melanie Wybrecht, ihre Buchhändlerinnenlehre gemacht hatte.
In der vierten Klasse schrieb ich:
Um unser Ferienhaus schlängelt sich ein kristallklarer Bach. Weit oben im Berg entspringen aus dunkeln Erdlöchern einige silberklare Quellen. Eine Strecke fliessen die Quellen allein. Nachher treffen sie sich zusammen und werden zu einem sprudelnden Bach. Nun bilden sich Wasserfälle und Wirbel. Die Wellen plätschern munter über die Steine und Fischlein schwimmen vergnügt bachauf, bachab. Libellen schwirren von Stein zu Stein. Weiter sprudelt der Bach, bis er in einem grossen Wasserfall donnernd in die Tiefe fällt.
Unter dem Einfluss meines Dritt- und Viertklasslehrers trat meine Mutter dem Schweizerischen Bund für Jugendliteratur bei. Ihre Ausbildung als Buchhändlerin, ihre Freude am Lesen, ihre eigene umfangreiche Bibliothek und ihre Kontakte und Freundschaften mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern machten sie zu einem idealen Mitglied. Trotzdem durfte ich von der ersten bis zur vierten Klasse die ab 1951 auch auf Deutsch erscheinenden Micky-Maus-Heftchen lesen, die mit ihrer „kinderschädigenden Pän-Päng-Sprache“ den meisten Schwebuju-Mitgliedern ein Dorn im Auge waren.
Ich war als Leser vom ersten Heft an mit dabei. Auf dem Heimweg von einer Wanderung ins Zehendermätteli erbettelte ich es von meiner Mutter am Kiosk in der Bahnstation Felsenau.
Wenn ich mir als Schriftsteller eine Erinnerungstafel wünschen dürfte und der Kiosk immer noch stünde, hätte ich einen Vorschlag für die Inschrift:
HIER SPRANG MELANIE HUTTERLI-WYBRECHT, AUSGEBILDETE BUCH-HÄNDLERIN, AKTIVES MITGLIED DES SCHWEIZERISCHEN BUNDES FÜR JUGENDLITERATUR (SCHWEBUJU), KÄMPFERIN GEGEN SCHUND UND FÜR WERTVOLLE KINDER- UND JUGENDBÜCHER, ÜBER IHREN EIGENEN SCHATTEN UND KAUFTE IHREM SOHN KURT IM JAHR 1951, STOLZ DARAUF, DASS ER SCHON SO GUT BUCHSTABIEREN KONNTE, DAS ERSTE DEUTSCHSPRACHIGE MICKEY-MAUS-HEFT.
Auch Künstler wollte ich schon früh werden. Für diesen Berufswunsch hatte mein Vater, der in seiner Freizeit oft zeichnete und malte, viel Verständnis. Als Fünftklässler begleitete ich ihn 1955 in die Berner Kunsthalle, wo elf Jahre nach dem Tod von Wassily Kandinsky eine erste „Gesamtausstellung“ gezeigt wurde.
Mein Vater bewunderte den grossen Meister so sehr, dass er unbedingt und verbotenerweise ein paar Dias aufnehmen wollte. Die Kamera hatte er in seiner Jacke versteckt. Für die heimliche Tat wählte er die Mittagszeit, weil er vermutete, dass sich dann nur wenige Leute in der Ausstellung aufhalten würden. Er hatte Recht. Es gab Augenblicke, wo sich im unteren Geschoss weder Besucher noch Aufsichtspersonal befanden. Meine Aufgabe war es, in der Nähe der Treppe zu stehen und geräuschvoll zu niesen, wenn Gefahr im Anzug war. „Gesundheit“, wünschte mir die Aufseherin, als sie an mir vorbei schritt. Ich dankte. Sobald sie wieder verschwunden war, klopfte mir mein Vater auf die Schultern: „Gut gemacht. Ich habe die meisten Bilder fotografieren können.“
Meine beiden „kandinskysierenden“ Farbstiftzeichnungen „Komposition auf rotem Grund“ und „Komposition auf grünem Grund“ von 1955 haben mich zusammen mit Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“ nach Kanada begleitet.
Zu unserer Auswanderung sagten Tochter Priska und Sohn Manuel 1996: „In anderen Familien wandern die Jungen aus. Bei uns sind es die Alten.“
Nach dem Grund für unsere Auswanderung gefragt, sagte Marianne in einem Interview, sie sei auf der Suche nach einem wackeligeren Leben. Und ich erklärte, es habe mich schon immer in Grenzgebiete gezogen, geografisch und in Literatur und Kunst. Vielleicht habe ich diese Sehnsucht im Blut. Viele meiner Vorfahren stammten aus Grenzgebieten, aus dem Elsass, vom Bodensee, und meine Grosseltern Marie und Jakob hatten sich ja nach der Pensionierung nahe der Grenze zu Italien niedergelassen.
1980/81 hatten Marianne und ich uns zusammen mit unseren Kindern schon ein wenig im Auswandern geübt, indem wir ein Jahr in Finnland verbrachten.
Sicher ist, dass wir die Schweiz nicht aus äusserem oder innerem Zwang verliessen, sondern aus Sehnsucht nach etwas Neuem, nach der Möglichkeit, umgeben von viel Natur nach eigenen Plänen und zu einem grossen Teil mit unseren eigenen Händen ein Haus und ein Atelier zu bauen. Wir freuten uns darauf, einen grossen Gemüse-, Kräuter- und Blumengarten anzulegen und Beerensträucher, Obstbäume und Rebstöcke zu pflanzen. Wie sehr sich jedes Jahr Hirsche und Bären am Ertrag beteilgen würden, ahnten wir nicht.
Kurt Hutterli, Schriftsteller und Künstler, lebt mit seiner Frau Marianne seit 1996 im Okanagan Valley im Südwesten von Kanada. Seit dem Jahr 2000 sind beide schweizerisch-kanadische Doppelbürger. Hutterli beurteilte während Jahren nebenamtlich als einer der „Wine Judges“ die Weine von British Columbia im Hinblick auf das VQA Gütesiegel (Vintners Quality Alliance).
Alle seine Theaterstücke sind im teaterverlag elgg erhältlich, ebenso die Erzählungen „Der Salon der Witwe Rusca“ und „Wenn der Weingott nach Aurora kommt“, der zweisprachige, illustrierte Text zum Theaterprojekt „Centovalli – Centoricordi“ mit Clown Dimitri und der im Waldgut Verlag erschienene Roman „Das Centovalli Brautgeschenk“.
Hutterlis schriftstellerische Arbeit wurde mit mehreren Buch- und Theaterpreisen, Werkjahren und Stipendien ausgezeichnet.
Die persönlichen Archive von Kurt Hutterli befinden sich in den „Special Collections“ der Universität von British Columbia in Vancouver und in der Schweizerischen Theatersammlung in Bern.